Persönliche Texte

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Flüchtige Begegnung im Flur

 

 

 

 


Wir waren auf dem Flur und eigentlich schon fast weg, als Jolanta uns in ihr Zimmer bat, damit wir etwas ins Gästebuch der Schule schreiben mögen. Nachdem wir unsere Eindrücke und Grüße niedergeschrieben hatten, bat uns Jolanta, noch einen Augenblick zu bleiben, weil sie uns noch zwei Geschichten erzählen wollte, die zu unserem Thema passten. Jolanta erzählte:
“Ich war kürzlich eingeladen zur Feier der Namengebung einer Schule in Warschau, die den Namen eines Mannes tragen sollte, der in Warschau zur Zeit des Nationalsozialismus gegen die Deutschen gekämpft hat. Neben mir im Publikum saß ein alter Mann, der die Zeit miterlebt hatte. Er wirkte unscheinbar und irgendwie schwach. Ein Teil der Feier bestand darin, dass der Chor der Schule Lieder singen sollte, die auch damals von jungen Leuten gesungen worden waren. Als die Schüler und Schülerinnen anfingen, herrschte zunächst ein unangenehmes Schweigen, weil die Lieder gar nicht schwermütig oder traurig klangen, wie es wohl jeder von uns erwartet hatte, sondern voller Lebensfreude und so lebendig und fröhlich.
Der alte Mann neben mir stand auf und sagte in seiner Rede, weil er das offensichtliche Unbehagen während der Musik bemerkt hatte, dass ihre Lieder damals ganz genauso geklungen hätten, wie die der jungen Leute, denn auch sie seien damals junge, kräftige Leute gewesen, die leben und Spaß haben wollten, die sich Mut machten und Hoffnung hatten.”
Jolanta wollte uns mit dieser Geschichte sagen, dass es so viele Dinge aus dieser Zeit zu berichten gibt, die überraschend und unerwartet sind, Geschichten, die menschlich und hoffnungsfroh sind in einer unmenschlichen Welt, positive Geschichten, die in Vergessenheit geraten sind, weil sie angesichts des Leids unwichtig und unwirklich erscheinen. Nachdem Martina und ich ihr bestätigt hatten, dass wir ganz ähnlich überraschende Erfahrungen in Warschau gemacht hatten, erzählte sie ihre zweite Geschichte:
“Meine Mutter war auch in Auschwitz in den letzten Tagen und Monaten vor der Auflösung des Lagers. Meine Schwester ist in Auschwitz geboren. Sie ist heute die Vorsitzende des Komitees der überlebenden Kinder von Auschwitz . Ich erzähle euch diese Geschichte, um zu sagen, dass in dieser schrecklichen Zeit an diesem schrecklichen Ort doch auch Leben stattfand, Leben, das leben und sich durchsetzen und Hoffnung geben wollte.” Viel mehr erzählte sie uns nicht.

Wir waren dankbar, dass uns diese Geschichten anvertraut wurden. Wir wissen nicht genau, was aus der Mutter geworden ist oder warum sie in Auschwitz war. Aber wir bleiben mit Jolanta in Verbindung.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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